Chinas geheimnisvoller Nordosten: Auf dem Weg zum heiligen Vulkan
Categories China, Große Ostasienreise, NordkoreaEin Vulkan ist der Anlass, dass ich meine Route durch den äußersten Nordosten Chinas lege. Um Changbaishan, in dessen Krater sich über die Jahrhunderte einer der tiefsten Seen der Welt gebildet hat, ranken sich einige Mythen.
Chinesen, Süd- und Nordkoreaner haben jeweils ihre eigene Auslegung. Nach neuzeitlicher nordkoreanischer Auffassung beispielsweise soll in einem nahegelegenen Camp Kim Jong-il geboren sein. Infolge dieser Mythen und Legenden gilt der Berg für Koreaner und Chinesen als heilig. Damit die Nationen gleichermaßen an ihrem Heiligtum teilhaben können, wurde die Grenze durch die Mitte des Vulkans bzw. des Sees gelegt: Die westliche Hälfte ist chinesisches Staatsgebiet, die östliche nordkoreanisches.
Doch um zu diesem heiligen Berg zu gelangen, muss ich zunächst in China einreisen. Kurz nach dem Passieren der russisch-chinesischen Grenzlinie erreicht mein Bus das Grenzterminal. Dafür, dass ich mich vor wenigen Augenblicken noch im Grenz-Niemandsland befand, mit (fast) nichts als Bäumen, wirkt das Terminal wie aus einer anderen Welt. Wir fahren in die -1-Ebene hinab, ich steige mit den 4 chinesischen Fahrgästen aus und gleite über den glatten Marmor zu den Kontrollhäuschen.
Ein bisschen Sorge habe ich, dass die Beamten nicht von der temporären Visafreiheit wissen. Doch die Sorge wird mir schnell genommen: Die Beamtin begrüßt mich freundlich, bittet die Kollegen herbei, die mich daraufhin zur Seite nehmen. Sie stellen mir die Fragen, die sie stellen müssen (u.a. zu meinen Aufenthaltsorten sowie meinen finanziellen Ressourcen während der Zeit in China). Sie sind spürbar begeistert von meiner Reise und der Route. Nach etwa einer drei Viertel Stunde sind alle Formalia erledigt und ich darf einreisen.
Meine erste Station nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt ist Suifenhe. Auch hier überrascht mich erneut die im Vergleich zu Russland ganz andere Welt: Obwohl die Stadt für chinesische Verhältnisse klein ist, besteht sie offensichtlich nur aus Hochhäusern. Gerüche steigen mir in die Nase, die mich an meinen Chinaaufenthalt 2016 erinnern. Die Menschen schauen häufig interessiert und lächeln zurück. Durch die vielen E-Fahrzeuge und E-Roller ist es angenehm ruhig – eine Wohltat im Vergleich zu russischen Städten, wo einem in den Abendstunden häufig Kamikazefahrer das Trommelfell wegblasen.
In einem Bereich nahe des Stadtzentrums versprüht die Stadt wieder etwas russischen Charme: Geschäfte und Restaurants sind auf Kyrillisch ausgewiesen, aus den Bars dröhnt Russisch-Pop. Durch die Straßen schlendern russische Gruppen, die zum Shoppen, Schlemmen und Feiern nach Suifenhe gekommen sind. Doch wenige Häuserblöcke weiter ist es wieder „ganz chinesisch“ und die Nähe zu Russland nicht mehr zu spüren.
Am nächsten Tag starte ich zu meiner Etappe nach Changbaishan. Bis dorthin sind es in Luftlinie gemessen etwa 200 Kilometer. Verschiedene Karten deuten darauf hin, Changbaishan auch mit dem Zug erreichen zu können. Ich frage am Bahnhof nach, mache es der netten Dame am Schalter jedoch nicht gerade einfach, da ich nicht weiß, wie der zum Vulkan nächstgelegene Bahnhof heißt. Sie scheint mein Anliegen trotzdem zu verstehen, erklärt mir aber, dass es keine direkte Zugverbindung durch die Berge gibt. Für den direkten Weg könne ich nur den Bus nutzen, mit dem Zug müsse ich umsteigen. Sie nennt mir den Umsteigeort, unglücklicherweise kenne ich diesen aber nicht bzw. verstehe ihn nicht einmal.
Ich wäge ab, ob ich lieber mich mit dem Bus durch die Berge zuckeln möchte oder entspannt mit dem Zug fahre, bei dem ich jedoch nicht weiß, wo dieser eigentlich hinfährt – und zugleich mit dem Risiko, dass mich die Dame doch nicht verstanden hat und möglicherweise annimmt, dass ich wo ganz anders hinmöchte. Nach den Anstrengungen der letzten Tage entscheide ich mich für den Zug.
Stutzig macht mich, dass das Ticket zum ersten Umsteigeort für chinesische Verhältnisse relativ teuer ist. Möglicherweise liegt das an der Zugkategorie, da ich einen D-Train (Hochgeschwindigkeitszug) nehme; oder daran, dass der Umsteigeort nicht „um die Ecke“ liegt. Oder an beidem. Ich boarde den Zug, dessen Ziel ich ebenfalls nicht ausmachen kann, weil es nur auf Chinesisch ausgewiesen ist. Ich bin gespannt, wo mich meine Reise hinführen wird.
Der Zug fährt los, mit etwa 200 km/h rauschen wir durch die Berge. Nicht nur mein Gefühl, sondern auch mein GPS-Tracker verrät mir: Wir fahren konsequent nach Nordwesten – ich muss aber nach Süden. Da ich erst in gut 2 Stunden umsteigen soll, werde ich ziemlich weit in die falsche Richtung fahren. Nach einer Weile wird mir klar, dass die Dame mich nach Harbin schickt, der gut 5 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt der Heilongjiang-Province. Auch nicht schlimm, denke ich mir, so kann ich mir Harbin anschauen, das u.a. für sein Snowfestival bekannt ist.
Bei meiner Ankunft löst sich ebenfalls das Rätsel um den unbekannten Namen des Umsteigebahnhofs: Ich komme am Südbahnhof an, der auf Chinesisch „Ha‘erbinshi“ heißt und gesprochen eben doch anders klingt als „Harbin“.
Von Harbin ist es relativ einfach, Changbaishan zu erreichen, denn vor kurzem wurde eine Hochgeschwindigkeitsstrecke in das Städtchen Baihe, das am Fuße des Berges liegt und als Eingangstor zum Nationalpark dient, errichtet. Die Dimensionen dieses „Nationalparkbahnhofs“ überraschen wieder einmal: Das Terminal des Bahnhofs könnte gut mit dem eines mittelgroßen deutschen Flughafens mithalten. Während ich in den Genuss der schnellen Anreise vom Norden her komme, wird an der Südanbindung (von und nach Shenyang) noch gebaut. Auch in dieser entlegenen Region unweit der nordkoreanischen Grenze hat das Zeitalter von Hochgeschwindigkeitszügen längst Einzug gehalten.
In Baihe geht es deutlich ruhiger zu als in anderen chinesischen Städten: Kiefern säumen die Straßen, dementsprechend riecht es häufig wie in unseren (ost-)deutschen Kiefernwäldern. Hochhäuser gibt es keine, dafür aber viele 5- bis 6-stöckige Ferienhäuser, die mir stellenweise einen verlassenen Eindruck machen. Wie mir Chinesen erläutern, sind viele Apartments in Privatbesitz, werden jedoch nur für wenige Besuche genutzt.
High Season ist in Changbaishan dennoch das ganze Jahr über. Um die Menschenmassen besser zu steuern, ist der Zugang zum Nationalpark nach Timeslots gestaffelt und die Zahl der Gäste für jeden Slot limitiert. Dankbarerweise erklärt mir meine Hostelmama das Procedere und besorgt mir das Ticket für meinen Besuch am übernächsten Tag. Hätte ich ihre Anleitung nicht gehabt, wäre ich vermutlich am Morgen am Gate aufgeschlagen und wäre nicht reingekommen, da es keine Tickets mehr gegeben hätte.
Zum vereinbarten Timeslot finde ich mich im Nationalparkzentrum am Stadtrand von Baihe ein. Hier werden die Besucherströme gebündelt. Reisebusse verlassen beinahe im Minutentakt die Station und befördern die Gäste zum etwa 40 Kilometer entfernten nächsten Terminal innerhalb des Parkes.
Von hier aus pendeln Busse zu den anderen Attraktionen des Nationalparkes, u.a. einem Wasserfall, heißen Quellen und einem sogenannten „Underground Forest“. Um zur Hauptattraktion des Parkes, den Vulkan, zu gelangen, muss ebenfalls hier umgestiegen werden. Die steile und kurvenreiche Strecke hoch zum Kraterrand können Reisebusse nicht befahren. Daher übernehmen kleine 11-Sitzer die weitere Beförderung. Ich frage mich mich, wie die vielen, mehrere tausend Menschen pro Tag, mit diesen kleinen Fahrzeugen hochgefahren werden sollen. Eine große Menschenmasse staut sich im Terminal. Am liebsten würde ich den Menschenmassen entfliehen und selber auf Entdeckungstour gehen. Doch Wandern ist im Nationalpark verboten, einerseits wegen des sensiblen Grenzgebiets zu Nordkorea, andererseits um vorzubeugen, dass Menschen in dieser Wildnis, in der auch Bären leben, verloren gehen.
Auto um Auto verlässt das Terminal, wie eine Perlenschnur reihen sie sich auf der Bergstraße auf. Nach nicht einmal 45 Minuten ist die Masse abgearbeitet und auch ich bin an der Reihe. In einem waghalsigen Tempo geht es hinauf, bei jeder Kurve – und davon gibt es sehr, sehr viele – krallen sich alle tief in den Sitzen ein, um bei den starken Fliehkräften den Nachbarpersonen nicht übermäßig nahe zu kommen.
Oben angekommen heißt es nochmal: Schlange stehen. Jede und jeder möchte möglichst lange am Kraterrand den Blick hinab und über den tiefblauen See, den Heaven Lake, genießen. Es wird für Selfies gepost. Hier und da wird ein bisschen geschubst (insb. durch ältere Herren!), um die besten Spots zu bekommen.
Faszinierend ist der Ausblick allemal: wegen des grandiosen Naturschauspiels, aber auch durch die Nähe zu Nordkorea. Auf der anderen Seite lässt sich die Bergstation der Nordkoreaner erahnen. Auch wenn die nordkoreanische Seite ein hochfrequentierter Ort sein soll, sind keine Menschen zu erblicken. Umgekehrt muss es ebenso verrückt sein, die vielen Menschen auf chinesischer Seite zu sehen, wie sie dicht an dicht am Kraterrand stehen und die Blicke hinüber werfen. Ein wahrhaft perfekter Ort für Legenden und Mythen.
Übrigens: Am Abend erzählen mir Chinesen, dass sie sich während des Ausflugs im Nationalpark in Korea wähnten, da sie fast nur Koreanisch gehört hätten. Changbaishan ist auch für Südkoreaner ein beliebtes Reiseziel. Durch das Verbot, Nordkorea zu besuchen, sind sie gezwungen, einen enormen Umweg zu nehmen und Changbaishan auf der chinesischen Seite zu besuchen.
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Mein nächster Blog-Beitrag: „Per Anhalter entlang der chinesisch-nordkoreanischen Grenze“.
Veröffentlichung: 8.08.2024
Mein Blog reist mir zeitlich immer ein bisschen hinterher. In dieser Zeit stelle ich meine Erlebnisse zu spannenden Beiträgen zusammen. Du möchtest aber wissen, wo ich mich aktuell befinde? Du möchtest meine Route und eine Auswahl von Foto-Schnappschüssen? Dann begleite mich gerne gerne auch auf Polarsteps (Link siehe hier)!
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