Meine letzten Tage in Russland: Die beinahe unendliche Geschichte, eine Grenze zu passieren (Teil 1 von 2)

Categories China, Große Ostasienreise, Russland

Mit meinem elektronischen Visum darf ich mich maximal 16 Tage in Russland aufhalten. Das ist nicht viel Zeit für eine Reise quer durch das Land, aber sie ist ausreichend, um mit kleinen Zwischenstopps vom äußersten Westen bis in den Osten zu kommen. Für die letzten Tage in Russland habe ich etwas Puffer angesetzt, um bei unvorhergesehenen Ereignissen und Verzögerungen noch rechtzeitig ausreisen zu können.

Am frühen Samstagabend und damit 1,5 Tage vor Ablauf meines Visums komme ich in Ussurijsk, einer Industriestadt bei Vladivostok in Russlands Fernem Osten an. Bis zu meinem angepeilten russisch-chinesischen Grenzübergang sind es nur noch rund 90 Kilometer. Ich bin sehr gut in der Zeit und plane, am nächsten Morgen (Sonntag) einen der ersten Busse zur Grenze zu nehmen. Auch wenn mir eine Website diverse Verbindungen angezeigt hat, möchte ich mich vorab zusätzlich persönlich am Busbahnhof informieren, damit auf den letzten Kilometern wirklich nichts schief geht. Noch am Abend laufe ich von meiner Unterkunft zum im Zentrum gelegenen Busbahnhof. 

Es ist regnerisch, einen einladenden Eindruck macht Ussurijsk nicht. In den Straßen haben sich große Pfützen gebildet. Als Fußgänger muss ich ständig aufpassen, nicht von den vorbeifahrenden Autos vollgespritzt zu werden.

Auf dem Weg zum Busbahnhof

Der fast menschenleere Busbahnhof versprüht immer noch einen sowjetischen Charme, eine dezente Urin-Duftnote steigt in die Nase. Ich wende mich an die unterbeschäftigte Dame am einzigen noch offenen Ticketschalter und frage, ob der Bus, den mir die Verbindungsauskunft ausgegeben hat, morgen wie geplant fährt. Nein, sagt sie, der fahre sonntags nicht. Komische Verbindungsauskunft, denke ich – zumal der Bus auch an ihrem Schalterfenster als tägliche Fahrt angeschlagen ist. Sie verweist mich an Büros in der oberen Etage.

Busbahnhof in Ussurijsk

Beide Türen sind jedoch verschlossen, ein Schild verweist auf Öffnungszeiten zwischen 6 und 15 Uhr. Dafür informieren viele Aushänge in kyrillisch und chinesisch über Routen, Abfahrten und Preise zu den nächsten Grenzübergangen und zu den direkt hinter der Grenze liegenden chinesischen Städten. Teilweise sind die Angaben kaum lesbar, weil mehrmals kopiert, verblichen oder widersprüchlich. Irgendetwas wird schon fahren, denke ich mir. Ich werde nicht der einzige sein, der zwischen Vladivostok bzw. Ussurijsk, den bedeutendsten russischen Städten in dieser Region und China unterwegs ist.

Durchwurschteln durch die Aushänge

In der Nacht hört der Regen auf. Das frühe Aufstehen am Sonntagmorgen gelingt mir, sodass ich gegen 6.15 Uhr den Busbahnhof erreiche. Siehe da, eine der Bürotüren ist offen und zwei Damen warten schlaftrunken auf einer der vielen Sitzbänke. Ich trete durch die offene Tür und frage nach einem Bus nach China. Die Dame verweist auf die Nachbartür, die noch verschlossen ist und sagt, dass das Büro ab 7.30 Uhr besetzt sei. Ich bin also umsonst so früh aufgestanden – und warte.

Das Büro öffnet zur angekündigten Zeit. Die freundliche Dame fragt nach meinem Visum und teilt mir mit, dass ich von den beiden naheliegenden Grenzübergangen in Pogranicnyy und in Poltavka mit meinem elektronischen Visum nur den in Poltavka nutzen darf. In Pogranicnyy würden nur reguläre Visa, aber keine elektronischen Visa akzeptiert werden. Ok, das stimmt auch mit den Informationen überein, die ich mir vorab beim Außenministerium eingeholt habe und konkretisiert die Wahl des richtigen Übergangs nochmals.
Da der nächste Direktbus nach Poltavka erst gegen 13 Uhr fahren würde, empfiehlt mir die Dame, mit einer lokalen Marshrutka (einem Kleinbus) zum nächsten Ort, der etwa 35 Kilometer entfernt und fast auf halber Strecke zum Übergang liegt, vorzufahren. Dort würden mehrere Busse mit Fahrtziel China halten, in die ich zusteigen könnte. Ich kaufe mir das Ticket für diese erste Etappe mit der Marshrutka. Abfahrt 8.40 Uhr – ich warte erneut eine Stunde. Alles gut, denke ich mir, es bleibt genügend Zeit.

Erste Etappe: Marshrutka von Ussurijsk zu einem Umsteigepunkt

Gegen 9.30 Uhr komme ich in diesem Zwischenort an, es sind wenige Menschen auf der Straße und kaum Verkehr. Die Sonne kommt langsam hervor. Im Busbahnhof warten ein paar wenige Fahrgäste, draußen steht eine Gruppe von Chinesen, die scheinbar mit Pkws hierher gebracht wurden. Dass auch chinesische Fahrgäste hier warten ist ein gutes Zeichen.

Ich frage am Ticketschalter nach einem Bus nach China. Die Schalterdame spricht sich mit einem Herren ab, der sogleich meinen Pass begutachtet und sagt, dass ich diesen Grenzübergang nicht nutzen kann. Ich antworte ihm, dass ich den Grenzübergang sehr wohl nutzen kann: Ich habe die schriftliche Information des Außenministeriums, dass elektronische Visa an diesem Übergang akzeptiert werden. Er entgegnet mir, dass elektronische Visa akzeptiert werden, an diesem Übergang jedoch nur von Personen mit russischen oder mit chinesischen Pässen. Ich glaube ihm nicht und vermute, dass wir uns missverstehen. Daher bitte ich die chinesische Gruppe um Übersetzungshilfe und hoffe auf deren Erfahrungen. Doch auch mit deren Hilfe können sie mir keine hoffnungsvollen Informationen vermitteln.

Darf ich oder darf ich nicht? – Viele Fragezeichen an diesem Umsteigepunkt

Es stellt sich heraus, dass der Herr, der meinen Pass geprüft hat, für den Vorab-Check der für den Grenzübergang erforderlichen Dokumente und für eine ordnungsgemäße Ausstellung der Tickets verantwortlich ist. Zum Boarden eines Busses komme ich demnach an ihm nicht vorbei. Schließlich hält ein Bus, es wird hektisch, die chinesische Gruppe steigt ein – und eigentlich will ich das auch.
Ich wende mich an den freundlichen Busfahrer und frage, ob ich mitkönne, aber auch er bestätigt mir, dass ich an diesem Übergang nicht akzeptiert werde. Beide Herren insistieren, ich solle stattdessen ein Taxi in das etwa 100 km entfernte Pogranicnyy nehmen und dort die Grenze passieren. Ich entgegne, dass das nicht ginge, da dort keine elektronischen Visa akzeptiert würden.

Auch sie sind ratlos, holen telefonisch den Rat eines weiteren Herren ein, der jedoch – dann zusätzlich auf Englisch – alles bisher Gesagte bestätigt und hinzufügt, dass auch die noch verbleibenden zwei Landweggrenzübergänge in dieser Region, ca. 250 Kilometer südlich und 180 Kilometer nördlich gelegen, vermutlich nur Personen mit russischen und chinesischen Pässen vorbehalten sind. 

Ich glaube den Aussagen der Herren immer noch nicht und frage mich, warum auf diese wichtige Einschränkung auf den offiziellen Seiten nicht hingewiesen wird. Am liebsten würde ich selbst an den Grenzübergang fahren und mein Glück versuchen. Doch zum einen ist für die verbleibenden 50 Kilometer keine Mitfahrgelegenheit in Sicht (es ist Sonntagmorgen und fast kein Verkehr) und zum anderen würde ich vermutlich an die Kontrollpunkte dieser stark gesicherten Grenze wegen möglicher Vorkontrollen ohnehin nicht herankommen.

Jetzt wird es doch tricky. Es ist 11 Uhr, mir verbleiben nur noch 13 Stunden, um Russland zu verlassen – ich weiß aber nicht wo. Die Übergänge in der nördlichen Nachbarregion sind sehr klein und liegen im Nirgendwo. Es wäre vertane Zeit und Mühe, es dort zu probieren. Vermutlich könnte es in Blagoveshtshensk, einer Großstadt am Amur mit bedeutendem Grenzverkehr zur chinesischen Nachbarstadt am anderen Ufer, klappen. Doch Blagoveshtshensk ist 1.600 Kilometer entfernt – ich würde es nicht schaffen, rechtzeitig auzureisen.

Mir bleibt nichts anderes übrig als nach Ussurijsk zurück- und damit von der Grenze wegzufahren.

Erfolglos gehts mit der Marshrutka wieder zurück nach Ussurijsk.

Dort angekommen ist es 12.30 Uhr. Auf der Polizei kann man mir nicht weiterhelfen, am Busbahnhof ist meine freundliche Schalterdame bass erstaunt, mich wiederzusehen. Ich schildere ihr meine Situation und frage sie vorsichtig, ob ich es nicht doch versuchen sollte in Poltavka? Vielleicht machen die Beamten eine Ausnahme? Sie zweifelt – ich auch.

Ich sehe keine andere Möglichkeit als nach Vladivostok, ca. 100 Kilometer entfernt, zurückzukehren. Bei der Abfahrt ist es 14 Uhr.

Ussurijsk: Warten auf den Bus nach Vladivostok

Bei der Ausreise am Flughafen von Vladivostok würde mein elektronisches Visum akzeptiert werden. Auch wenn ein Flug meinem Ziel auf dem Landweg zu reisen entgegensteht, muss ich in diesem Notfall diese Alternative in Erwägung ziehen. Daher checke ich während der holprigen Busfahrt die wenigen Flüge ab Vladivostok. Theoretisch könnte ich abends noch zwei Flüge nach Tashkent (Usbekistan) und nach Shanghai (China) erwischen, die mich an Orte befördern, die wo ganz anders liegen bzw. an die ich gar nicht möchte und die mich mind. 500 EUR kosten würden. Dazu frage ich mich, wie ich die Flüge überhaupt bezahlen soll: Meine deutschen Kreditkarten sind in Russland und bei vielen russischen Unternehmen nicht nutzbar. Ich grübele, wie ich dieses Problem in der kurzen Zeit, 1-2 Stunden, lösen könnte. Einen Overstay in Russland möchte ich bei den aktuellen Rahmenbedingungen unbedingt vermeiden.

Es ist ungefähr 16 Uhr. Noch 8 Stunden bis zum Ablauf meines Visums. Ich lasse mich in einer Shoppingmall in Vladivostok nieder, um alles sacken zu lassen und mit einer stabilen Internetverbindung nochmal die Flüge zu prüfen und dann eine Buchung zu probieren.

Ich lerne Sasha (Name geändert) kennen, der mir in seinem Geschäft Zugang zu stabilem Internet gibt. Ich berichte von meiner Lage. Während ich die Flüge checke, telefoniert er mit seinem Papa, der bei der Polizei arbeitet. Im Anschluss des Gesprächs meint er, dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Sein Papa empfiehlt mir, gleich morgen (Montag) in der Früh zur Behörde für Migrationsangelegenheiten zu gehen, die Situation darzulegen und um eine Verlängerung meines Visums zu bitten. Das sollte kein Problem sein, meint er.
Auch ich erinnere mich, bei der Beantragung des Visums gelesen zu haben, dass bei außergewöhnlichen Umständen eine Verlängerung möglich sei. Wir tauschen Nummern aus, sodass ich im Notfall auch mit seinem Vater kommunizieren könnte. Außerdem vermittelt er mir die Adresse der Behörde. Mit dieser erleichternden Information entscheide ich mich zu bleiben und morgen in der Früh bei der Behörde vorzusprechen.

Zurück in Vladivostok scheint immerhin wieder die Sonne.

Wie das Abenteuer, diese Grenze zu passieren zu Ende geht, beschreibe ich in meinem folgenden Beitrag: „Meine letzten Tage in Russland: Die beinahe unendliche Geschichte, eine Grenze zu passieren (Teil 2 von 2)“

Veröffentlichung: Samstag, 6.07.2024

Mein Blog reist mir zeitlich immer ein bisschen hinterher. In dieser Zeit stelle ich meine Erlebnisse zu spannenden Beiträgen zusammen. Du möchtest aber wissen, wo ich mich aktuell befinde? Du möchtest meine Route und eine Auswahl von Foto-Schnappschüssen? Dann begleite mich gerne auch auf Polarsteps (Link siehe hier)!

2 thoughts on “Meine letzten Tage in Russland: Die beinahe unendliche Geschichte, eine Grenze zu passieren (Teil 1 von 2)

Comments are closed.