Durch die Ukraine in den Nordkaukasus

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Für meine neue Iranreise folge ich einem Weg, den ich bereits 2013 genutzt habe: über Polen und die Ukraine nach Russland, dann weiter nach Georgien und Armenien. 2013 durchquerte ich diese Länder auf schnellstem Wege, u.a. um die Visabedingungen einzuhalten. Nun lasse ich mir etwas mehr Zeit und schaue mir die Attraktionen an, die ich damals verpasst habe.

Gerade einmal 4 Jahre sind seit der Reise vergangen – und trotzdem gibt es eine neue Herausforderung: Wie komme ich sicher durch die Ukraine? In der östlichen Ukraine schwelt weiterhin ein Konflikt, der in unserer westlichen Welt scheinbar in Vergessenheit geraten ist. Große, industrialisierte Landstriche sind nicht mehr unter der Kontrolle der ukrainischen Staatsregierung, stattdessen kontrollieren Separatisten die Region.

Die Internetrecherche lässt viele Fragen offen: Wie sicher ist die Donbass-Region derzeit? Gibt es Verkehrsverbindungen zwischen dem Donbass und Russland bzw. zwischen dem Donbass und den anderen Teilen der Ukraine? Valentyna, eine gute Freundin aus Kiew gibt mir unmissverständlich zu verstehen: Lass es! Die Lage ist nach wie vor unübersichtlich. Metropolen wie Luhansk und Donezk sind verkehrlich vom Westen abgeschnitten, es ist sogar vorgesehen, die Stromversorgung zwischen der Ukraine und den Separatistengebieten zu kappen.

Genauso unglaublich ist, dass das Leben in der Hauptstadt augenscheinlich normal weitergeht – bis in die Krisenregionen sind es immerhin rund 700 Kilometer.

Der Majdan ist der zentrale Platz Kiews. Bekannt wurde er vor allem durch die Orange Revolution 2004 und die Proteste im Winter 2013/14.

Dass der Krieg doch nicht ganz so weit weg ist, wird mir im Militärmuseum in Kiew bewusst: Vor ein paar Wochen wurde eine Ausstellung zum Donbass-Konflikt eröffnet, mit Relikten, die das Kampfgeschehen verdeutlichen. Mit „Museum“ verbinde ich primär die Ausstellung von Ereignissen, die bereits einige Jahre zurückliegen und die politisch und gesellschaftlich aufgearbeitet sind. Der Donbass-Konflikt jedoch ist alles andere als gelöst, noch immer werden täglich bewaffnete Konflikte ausgetragen – so Valentyna.

Für die Weiterfahrt nach Russland stehen mir – auch abseits der Konfliktregionen – nur noch wenige Reisewege zur Verfügung. Das Angebot auf der einstmals wichtigen Relation Kiew – Moskau beschränkt sich je Richtung auf rund 6 Schnellzüge pro Tag. Immerhin – könnte ich auch sagen, denn der direkte Flugverkehr wurde sogar komplett eingestellt. Flugreisende müssen nun in Minsk umsteigen.

Der Umweg Richtung Moskau bleibt mir glücklicherweise erspart, denn in Kharkiv erreiche ich den nur alle zwei bis drei Tage verkehrenden Nachtzug in Richtung Baku/Azerbaidschan. Ich fahre mit diesem bis ins russische Wolgograd, der Stadt, die bis 1961 den Namen Stalingrad trug.

In Stalingrad hatte die Deutsche Wehrmacht im Winter 1942/43 verheerende Niederlagen hinnehmen müssen. Hier war es, wo der Zweite Weltkrieg eine psychologische Wende erfahren hat. Folglich wurde Wolgograd als Ort gewählt, wo die Erfolge der Roten Armee auf besondere Art gewürdigt und den gefallenen Soldaten gedacht werden sollte. Für solch herausragende Ereignisse schufen Sowjets beeindruckende Monumente. So auch in Wolgograd. Allen Monumenten voran steht die kolossale, rund 80 Meter hohe Mutter-Heimat-Statue auf dem Mamajew-Hügel.

Die Mutter-Heimat-Statue (Скульптура „Родина-мать“) auf dem Mamajew-Hügel, dem Platz, wo sich die Deutsche Wehrmacht und die Rote Armee erbitterte Kämpfe lieferten.

Von diesem bietet sich ein großartiger Blick über die ca. 1 Millionen Einwohner zählende Stadt, die sich über viele Kilometer entlang der Wolga erstreckt. Nach wie vor ist Wolgograd ein wichtiger russischer Wirtschaftsstandort – deutlich erkennbar an den zahlreichen und riesigen Fabrikhallen und den qualmenden Schloten links und rechts der Wolga. Als ich mit der Tram durch die Stadt kurve und dann zu Fuß durch die Straßen schlendere, sehe ich die Stadt aus der Nähe und frage mich: Was ist Wolgograd wirklich? Eine sich entwickelnde Großstadt? Oder eine Industriestadt mit Unternehmen, die auf dem internationalen Markt keine Chancen hätten? Diese Fragen bleiben zunächst unbeantwortet und so fahre ich weiter in den Nordkaukasus, zunächst nach Mineralnyje Wody, dann nach Pjatigorsk und Kislovodsk.

In Scharen pilgern Russen nach Kislovodsk, um Heilung von allerlei Wehwehchen zu finden. An gefühlt jeder Ecke spucken hier Brunnen ihr faulig riechendes Nass aus, stattliche Kurhäuser geben der Stadt eine sehr mondäne Atmosphäre. Auf der Spitze des Hausbergs von Kislovodsk schweift meint Blick gen Süden zu den richtig hohen Bergen des Kaukasus’. Wegen des Dunstes bleiben sie mir verborgen, doch erahnen kann ich die angrenzenden Republiken Südrusslands mit den so geheimnisvoll klingenden Namen „Karatschai-Tscherkessien“ und „Kabardino-Balkarien“. Was es dort in den Bergen zu sehen und zu erleben gibt? Eine kleinen Vorgeschmack – im wahrsten Sinne des Wortes – bekomme ich auf der Suche nach einem ordentlich Abendessen: ein vom Äußeren her russisch anmutendes und dazu auch familienbetriebenes Restaurant. Doch warum sieht die Familie ganz und gar nicht russisch aus? Und die Speisen sind es ebenfalls nicht. Die Antwort auf die Frage, wo die Familie herkommt, verstehe ich zunächst nicht, doch dann wird mir klar: Die Familie kommt aus Tscherkessien!

Blick auf Kislovodsk

Leider habe ich keine Zeit für einen Besuch dieser Teilrepubliken eingeplant, sondern suche nun einen relativ schnellen Weg nach Georgien. Mein letzter Höhepunkt in Russland ist eine Republik, deren Namen weniger geheimnisvoll klingt, sondern vielmehr Erinnerungen an Gewalt und Korruption hervorruft: Tschetschenien. Entsprechen diese Vorstellungen der Realität? Wie sieht Tschetschenien wirklich aus? Wie sind Tschetschenen?

Als der Zug morgens in Tschetschenien zum Stehen kommt, wird mir augenblicklich bewusst, dass diese autonome Republik tatsächlich anders ist: Die Menschen sehen (wieder einmal) anders aus: andere Kleidung, dazu Kopfbedeckung. Unweit des Bahnhofs befindet sich eine Moschee. Verrückt – dabei bin ich immer noch in Russland!

Nur eine Nachtzugfahrt innerhalb Russlands – und am nächsten Morgen doch in einer ganz anderen Welt: Ankunft im muslimischen Tschetschenien, hier Gudermes, etwa 30 Kilometer entfernt von Grosny.

Zwei Stunden später komme ich in Grosny an – die Sicherheitsvorkehrungen sind in der Tat etwas strenger als im Rest Russlands. Einer der Sicherheitsmänner identifiziert mich sofort als Deutschen, sagt, dass er für ein paar Jahre in Deutschland gelebt habe und freut sich sichtlich, einen Deutschen in Grosny zu sehen.

Grau und zerstört – von wegen! Grosny zeigt sich – bei sommerlichem Wetter – von einer schicken, modernen Seite.

Kulturzentrum „Dom Priemov“ in Grosny, das u.a. ein Theater und eine Kinderkunstschule beherbergt.

Die Stadt wurde nach dem zweiten Tschetschenienkrieg neu aufgebaut, der zentrale Platz Grosnys wird von der Achmat-Kadyrow-Moschee, der größten Russlands, geprägt. Etwa 500 Meter östlich davon ragen mehrere glasverkleidete Hochhäuser in den Himmel. Die Stadt wirkt friedlich, die Menschen angenehm freundlich. Welch ein Kontrast zu den Bildern, die ich aus dem Internet kenne! Doch diese scheinbar heile Welt wirft erneut Fragen auf: Wie kommt eine arme Republik zu diesen repräsentativen Gebäuden? Und da ist wieder das Bild von korrupten Politikern und vom großen Geldgeber Putin, ohne den Grosny vermutlich nicht überleben würde.

Ich verlasse Tschetschenien und komme nach Vladikavkaz, der letzten russischen Stadt vor der georgischen Grenze. Ab hier ist der Weg wieder vertraut, auch 2013 bin ich auf der berühmten Georgischen Heerstraße gereist, die kurz nach dem Ortsausgang von Vladikavkaz in atemberaubenden Schluchten und unbeleuchteten Tunnels verschwindet. Unerwartet lange dauert die Ausreise aus Russland. Nicht, weil eine Mitfahrgelegenheit fehlt, sondern vielmehr, weil mir der freundliche russische Grenzbeamte allerhand Fragen stellt, bei denen ich mich wiederum frage, warum er all diese beantwortet haben möchte. „Keine Sorge, alles Routine“, wird mir versichert und nach einer halben Stunde Gespräch der Ausreisestempel in meinen Pass gedrückt. Na dann: Hallo Georgien! Hallo Stepanzminda!