Thailand – der Kulturschock

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Größer kann der Unterschied nicht sein: Ich verlasse Myanmar und aus meiner staubigen Schotterpiste wird direkt auf dem Grenzstreifen zu Thailand eine asphaltierte dreispurige Straße. Wir stoppen am Kontrollhäuschen, unsere Reisepässe werden kurz durchgeschaut. Wir werden gebeten zur „richtigen“ Immigration – etwa fünf Kilometer von hier – weiterzufahren. Auf dem Weg dorthin begegnen wir keinem weiteren Auto. Es ist fast nichts los an diesem Grenzübergang. In der Nachmittagshitze flimmert die frische Fahrbahnmarkierung.
Die formale Einreise in Thailand verläuft vollkommen reibungslos. Nach dem obligatorischen Ausfüllen der Arrival Card, dem Bildchen machen und ein paar netten Worten mit dem Beamten wird mir mein Einreisestempel in den Reisepass gestempelt. Visa on arrival mit einer Aufenthaltsgenehmigung bis zu 30 Tage. Das Visum ist kostenlos. Die thailändischen Behörden machen mir den Besuch ihres Landes besonders einfach.
Wider Erwarten gibt es von dem kleinen Örtchen, in dem die Immigration liegt, eine mindestens zweistündliche Busverbindung in die nächstgrößere Stadt Kanchanaburi. Als ich die Immigration verlasse ist der Bus kurz vor der Abfahrt. Ich wechsle schnell Geld, kaufe ein Ticket und los gehts. Schon lange nicht mehr bin ich in einem so luxuriösen Bus gefahren: Klimaanlage, Wifi und sehr viel Platz. Mehr als 10 Reisende werden auf der eineinhalbstündigen Busfahrt nicht befördert.
Nach Bangkok schaffe ich es an diesem Tag nicht mehr. Ich bleibe in Kanchanaburi, das ca. 120 Kilometer westlich von Bangkok liegt und rund 30.000 Einwohner zählt. Nach meinen ersten Schritten in der Stadt bin ich irritiert: 7-Eleven-Convenience Stores, Fastfood-Restaurant, die wir aus westlichen Ländern kennen, gesichtslose Betonhäuser. Den Straßenverkehr dominieren Pick-ups. Wären da nicht ein paar Menschen mit asiatischem Aussehen auf den Gehwegen, würde ich mich in Nordamerika wähnen. Der öffentliche Raum ist fast komplett austauschbar.
Als ich mich abends mit dem Wifi im Hotel verbinde, merke ich, dass ich in einer Stadt mit überragender historischer Bedeutung gestrandet bin. Durch Kanchaburi führt die sogenannte „Death Railway“, deren Name sich aus den mörderischen Bedingungen während ihres Baus ableitet. Im Zweiten Weltkrieg suchten die Japaner nach einer Möglichkeit, eine alternative Versorgungsroute für ihre Eroberungszüge in die westlichen Länder Asiens aufzubauen. 1942 begann der Bau dieser Eisenbahn aus dem vom japanischen Militär besetzten Thailand über den Three Pagoda Pass in das damalige Burma. Obwohl japanische Ingenieure für den Bau fünf Jahre veranschlagten, ging die japanische Armee über Leichen (sprichwörtlich) und ließ die Strecke durch Zwangsarbeiter innerhalb von 16 Monaten errichten. Vermutlich ließen etwa 100.000 Zwangsarbeiter wegen der widrigen Umstände ihr Leben. In den darauffolgenden Jahren während des Krieges kam der Strecke jedoch eine andere Funktion zu: Sie diente den Japanern als Rückzugsroute – bis 1945 infolge der Bombadierung der River-Kwai-Brücke in Kanchanaburi durch die Alliierten die Strecke unterbrochen wurde. Im Grenzgebiet Myanmar/Thailand liegt die Strecke heute in den Tiefen eines Stausees – oder ist abseits davon abgebaut. Einzig der Abschnitt um Kanchanaburi und etwa 70 Kilometer nordwestlich davon ist heute in Betrieb und mit einigen Ingenieurbauwerken aus der Ursprungszeit eine weltbekannte Touristendestination.

Nach diesem unerwarteten Abtauchen in die Geschichte Südostasiens folge ich meiner ursprünglichen Route und fahre weiter nach Bangkok. Die Strecke besticht nicht gerade durch landschaftliche Schönheiten. Flaches, trockenes Land, hier und da eine typische, dem Anschein nach langweilige Betonstadt. Als ich Bangkok ankomme ist es bereits dunkel – und da ich noch keinen Reiseführer gekauft habe, bin ich etwas orientierungslos. Ich frage einen Einheimischen, wo ich eine nette Unterkunft für die Nacht bekommen könnte. Er stellt mir ein Gebiet in Aussicht, in dem ich garantiert ein Bett bekommen würde. Als ich dort ankomme, realisiere ich, dass er mich genau dorthin geschickt hat, wo ich NICHT hinwollte: Khao San Road – die Partymeile schlechthin, wo sich sehr viele Thailand-Urlauber ein Bier oder einen Drink genehmigen – oder mehrere. Gewiss, ein Abend auf der Khao San Road kann lustig sein – aber nicht, wenn man monatelang in vorwiegend Touristen-freien und muslimischen Gebieten unterwegs war und Alkoholleichen nicht mehr gewöhnt ist. Außerdem frage ich mich: Lebt noch jemand in Deutschland? Wir Deutschen sind doch alle hier!
Da meine Batterien doch nicht mehr ganz so voll sind, lasse ich mich in einer Seitenstraße nieder und lasse auch die Bedbugs über mich ergehen (die Folgen merke ich jedoch erst einen Tag später).
Am nächsten Tag tauche ich vollständig in das Leben in Bangkok ein. Was für ein Kulturschock: Als ich in die erste Shoppingmall eintrete, lande ich direkt in einem Laden der Schuhmarke, für die die Fabrik, die ich in Bangladesch besucht habe, Schuhe produziert. Das stehen sie also, die Schuhe. Nichts verrät, aus welcher Umgebung die Schuhe kommen, wie und durch wen sie gefertigt wurden. Verkauft werden sie zu einem Vielfachen des Herstellungspreises. Musik dudelt, um die Kunden zum Kauf zu animieren. Ein hellhäutiger Kunde beäugt die Schuhe kritisch. Ich bin kurz davor, ihn anzusprechen, um ihm zu erzählen, welche Geschichte diese Schuhe haben. Doch ich verkneife es mir – was würde es bringen?
Ich schlendere weiter, fahre mit öffentlichen Verkehrsmitteln kreuz und quer durch Bangkok und lande in einer anderen, wirklich schicken Shoppingmall. Mich zieht es in den Foodcourt – weniger, weil ich hungrig bin, sondern zum Schauen. Es gibt Essen en masse. Komisch, das Essen fühlt sich (beim Hinsehen) gar nicht an wie richtiges Essen. Die Systemgastronomie erfordert, dass die Zutaten stets die gleiche Form und die gleiche Konsistenz haben. Ich erinnere mich an die vielen Stände in Myanmar, Indien und Co., wo Blumenkohl in unterschiedlichen Formen lag, wo die Hühnchen mit all ihren Organen ausgenommen und präsentiert wurden. Und das hier? Ist das sterile Etwas überhaupt noch Essen? Oder ist es vielmehr ein gleichartiger Gegenstand?
An einem international bekannten Geschäft für süße Teigwaren stechen mir die Törtchen und Donuts ins Auge: Das Farbspektrum reicht von gelb bis braun, so gut wie alles ist vertreten. Mit Streusel und ohne. Oder eine anderes Topping gefällig? Die Ladentheke ist voll. Es ist 17.30 Uhr. Die Mall schließt in ca. 4 Stunden. Wer braucht das alles? Wer soll das alles Essen? In meinen vorher bereisten Ländern standen meist ein paar Töpfe draußen auf der Theke – und die wurden garantiert leer.
Die scheinbare Überflussgesellschaft ist auch außerhalb der Shoppingmall omnipräsent. Im Skytrain dröhnen die Reklamen von Unternehmen, die für Mittelchen zur Aktivierung von Darmkulturen werben oder zum Fettabsaugen animieren. Apropos Übergewicht: Auffällig ist, dass die Menschen deutlich beleibter sind als in den anderen zuvor bereisten Ländern. Gut, denke ich mir – das kann an der Kultur und am Körperbau liegen. Sehr auffällig ist jedoch, dass insbesondere Kinder zur Fettleibigkeit neigen. Nachdem ich eine Weile darauf geachtet habe, mit welchen eisgekühlten Getränken in Riesenbechern die Kinder durch die Gegend laufen, würde ich nicht mehr behaupten, dass der Körperbau der Thais Schuld an der Fettleibigkeit ist.

Nach diesem anfänglichen Kulturschock würde ich gerne auch was Schönes erleben und davon hier auf meinem Blog berichten. Thailand tituliert sich als „Land of Smiles“ und so viele Menschen schwärmen von den freundlichen Thais. Ich mache mich auf die Suche – doch scheinbar verstecken sich die freundlich lächelnden Thais heute. Auch in den nächsten Tagen bin ich nicht wirklich erfolgreich. Ein Lächeln meinerseits im Skytrain wird vielmehr mit einem Gesichtsausdruck beantwortet, der mir signalisiert: „Was willst du von mir?“ In einem Shoppingcenter kommt es sogar soweit, dass ein Verkäufer im Telekommunikationsladen patzig wird als ich sein nicht funktionierendes Produkt beanstande. Das zweite Mal auf meiner Reise, dass jemand mir gegenüber unfreundlich wird (das erste Mal war ein wenig serviceorientierter, indischer Banker in Kolkata). Gewiss, viele Thais, die mir auf meinen Erkundungstouren begegnen sind einfach ok, nicht überfreundlich, aber auch nicht unfreundlich. Nach meinen vorangegangen Erfahrungen habe ich möglicherweise zu hohe Erwartungen. Doch: In der Großstadt Yangon hat es mit der Freundlichkeit auch geklappt.
Ein Lichtblick ist der Besuch des großen Khlong Toei-Basars im Herzen Bangkoks, wo tatsächlich Gemüse in allen möglichen Formen, Tiere als Ganzes oder in ihren Einzelteilen verkauft werden. Hier werde ich tatsächlich nach meiner Herkunft gefragt, interessiert geschaut, was ich fotografiere oder einfach nur nett gelächelt.
Und noch eine weitere, interessante Beobachtung im internationalen Bangkok: Besonders großen Respekt habe ich vor den westlichen Menschen, die in meinen Augen stets groß und stark wirken. Doch warum schauen auffallend viele so grimmig? Diese Menschen sind im Urlaub und müssten daher – würde ich annehmen – die ganze Freude der Welt ausstrahlen.

Nach gut einer Woche Bangkok habe ich genug Großstadtluft geschnuppert und sehne mich nach einem richtigen thailändischen Ort mit Erholungscharakter. Nach einer detaillierten Recherche suche ich mir Prachuap Khiri Khan als neuen Standort aus, eine ca. 27.000 Einwohner zählende Stadt auf halbem Weg zwischen Bangkok und Ko Samui (d.h. ca. 300 Kilometer südlich von Bangkok). Wie ich nach einigen Tagen feststelle, ist dieser Ort perfekt für einen authentischen Thailandaufenthalt. Kleine, übersichtliche Stadt, nette Menschen (hier klappt es dann doch), täglich wechselnde Märkte mit einer überragenden Auswahl an Speisen, lustige Mitreisende, gute Unterkunft, super Infrastruktur (z.B. liegt der Bahnhof in Laufweite). Den Aufenthalt erinnerungswert macht der Weg zum Strand: Um zum Liegestuhl zu kommen ist es erforderlich, eine Militärbase zu passieren und deren Runway (die bei Bedarf angeflogen wird) zu queren. Historisch gesehen kommt dieser Base eine besondere Bedeutung zu. Im Zweiten Weltkrieg gelang es den Japanern bei ihrer Invasion in Thailand zunächst nicht, diesen Ort einzunehmen.

Nach verschiedenen weiteren Stationen in Thailand zieht es mich in den tiefen Süden Thailands, dessen Bevölkerung von Malay Muslimen dominiert wird (ca. 80%). Mich reizt der Besuch, denn der südliche Zipfel tickt vollkommen anders als der Rest des buddhistisch geprägten Thailands. Nur ein ganz kleiner Teil der rund 24 Millionen Besucher, die jährlich nach Thailand strömen, bekommt diesen Landstrich zu Gesicht – geschweige denn, kennt dessen Geschichte und weiß über den Konflikt, der sich in diesem Landesteil abspielt, bescheid.
Nicht nur durch die Religion unterscheiden sich die Menschen, sondern auch durch die Sprache, die ein Dialekt des in Malaysia gesprochenen Malays ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die südlichen Provinzen Thailands und die des nördlichen Malaysias einst – vor ca. 400 Jahren – das „Sultanat von Patani“ bildeten.
Den Wunsch, sich vom Rest Thailands zu lösen, beflügelten Gebietstäusche zwischen Briten und Thais am Anfang des 20. Jahrhunderts, die über die Köpfe der lokalen Bevölkerung hinweg vollzogen wurden. Aktuell tragen Entscheidungen aus Bangkok, die nicht mit der Kultur der Malay Muslime vereinbar sind, zum Konflikt bei. Beispielsweise müssen muslimische Kinder Schulen nach buddhistischem Schulsystem besuchen. Oder: In den südlichen Provinzen gibt es keine Zeitung in Malay – der Sprache, die vom überwiegenden Teil der Bevölkerung gesprochen wird.
Nicht verwunderlich ist, dass ein nicht kleine Gruppe mit radikalen Maßnahmen versucht, die Autonomie der südlichen Landesteile wiederherzustellen. Attackiert werden gezielt Repräsentanten des Staates (Soldaten, Lehrer, etc.), z.B. durch Bombenattentate. Thailands Regierung tut ihr bestes, dieses Problem nicht zu lösen. Eine Herauslösung der Provinzen, nicht einmal die Zuspruch von mehr Autonomie, ist aus der Sicht Bangkoks eine Option. Die Strategie Bangkoks ist vielmehr, sich in Schweigen zu hüllen. Zu groß ist die Sorge, dass die Nachrichten über das, was sich in den südlichen Provinzen abspielt, den Ruf des Landes beschädigen und damit das Bild von tadellosen weißen Stränden. Lonely Planet bezeichnet meiner Meinung diesen Zustand treffend als „Thailand’s forgotten war“. Es ist absehbar, dass sich in den nächsten Jahren nichts verändert. Solange werden die Repräsentanten und die scheinbare Überzahl von thailändischem Militär (in der Region sind etwa 150.000 Soldaten stationiert, die u.a. die dauerhaften Straßenkontrollstellen besetzen) ein extrem gefährliches Leben führen. Und zwangsweise auch die Zivilbevölkerung.

 

Mein Rückblick

Ich habe in Thailand viele nette und freundliche Menschen getroffen. Doch im Vergleich zu den vorher bereisten Ländern würde ich den Titel „Land of Smiles“ – wenn ich ihn nur einmal verleihen könnte – einem anderen Land zusprechen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich relativ wenig Kontakt mit Einheimischen hatte, der über Essen kaufen und den normalen Small Talk hinaus ging. Dies erkläre ich mir u.a. damit, dass die touristische Infrastruktur in Thailand extrem gut ausgebaut ist und einen intensiveren Kontakt mit den Einheimischen nicht erforderlich macht (z.B. zahlreiche günstige Hotels anstelle von Homestays, Streetfoodstände anstelle zu Hause eingeladen zu werden, etc.). Auch beim Couchsurfing war ich immer bei Nicht-Thais untergebracht.
Der Besuch des äußersten Süden Thailands mit seiner überwiegend muslimischen Bevölkerung und der äußerst herzlichen Willkommenskultur hat mir große Lust auf das ebenfalls muslimisch dominierte Malaysia gemacht. Ich freue mich auf Malaysia.

 

Abseits meines Thailandberichts: Bereits über die Hälfte meiner Reise ist vorbei. Langsam muss ich an die Rückfahrt gen Deutschland denken. Die Route, die ich dabei nehmen werde wird nun konkreter. Auf Tripline (www.tripline.net) dokumentiere ich meinen zurückgelegten Weg und aktualisiere fortwährend die noch kommenden Etappen.