Rückblick: mein Eindruck von Indien

Categories Große Asienreise, Indien

Sieben Wochen Indien liegen hinter mir. Zwar komme ich nach meinem Bangladesch-Aufenthalt nochmal für vsl. vier Tage in das abgelegene Nordost-Indien. Jedoch möchte ich bereits an dieser Stelle meinen Eindruck zu Mainland-India vermitteln.
Mit verschiedenen Vorstellungen bin ich in Indien eingereist. Ich habe viele Überraschungen erlebt und Facetten kennengelernt, die ich mir so nicht vorgestellt hatte. Einige Entdeckungen führen aber auch dazu, dass ich Indien mit gemischten Gefühlen verlasse.

Meine Überraschungen:

  • Im Voraus habe ich mich mit Glauben und Religion in Indien nicht beschäftigt. Ich war überrascht, dass neben dem Hinduismus andere Religionen eine bedeutende Rolle spielen. Ich hätte nicht erwartet, dass rund 15% der Inder Muslime sind und es eine nennenswerte christliche Glaubensgemeinschaft gibt. Und die Religionen leben (weitestgehend) friedlich zusammen.
  • Der Hinduismus war für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich habe ein sehr frommes und spirituelles Indien erlebt, dessen Glaubensgemeinschaft sich auf weite Reisen begibt, um bestimmte Riten zu begehen und Götter zu ehren. Der Hinduismus macht(e) auf mich den Eindruck einer sehr toleranten und damit friedlichen Religion.
  • Auch in Indien sind arrangierte Ehen gang und gäbe. Liebesheiraten machen gerade mal ein Drittel der Eheschließungen aus. In Megacitys wird der Anteil wohl höher sein. Übrigens: Ob arrangiert oder aus Liebe – die Religion spielt keine Rolle. Bei Christen sind arrangierte Ehen genauso verbreitet.
  • Erstaunt war ich, dass für viele Mittel- und Oberklasse-Inder nicht Hindi oder Tamil (oder sonst eine für Indien originäre Sprache) die erste Sprache ist, sondern Englisch, wenngleich der Akzent für meine Ohren sehr, sehr gewöhnungsbedürftig war und immer noch ist.
  • Wer denkt, dass Indien das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist, liegt falsch. Indien ist das Land der Verbote! Öffentliche Bereiche werden häufig von Schildern geprägt, mit Aufforderungen, was zu tun oder zu lassen ist. In der Metro in Dehli werden – neben der Ansage des nächsten Halts – fortwährend die Verbote durchgesagt.
  • Ich hatte damit gerechnet, wegen der vermeintlich schlechten Qualität der Lebensmittel mindestens ein oder zwei Wochen auszufallen. Ein Totalausfall ist immer noch nicht eingetreten und ich muss gestehen, dass ich mich in das indische Essen insb. wegen der Vielfalt und wegen des weitgehenden Verzichts auf Fleisch ein wenig verliebt habe.
  • Überrascht war ich, dass ich an vermeintlichen Touristenhotspots meist doch ein authentisches („richtiges“) Indien vorgefunden habe. Z.B. in Bombay. Tagelang habe ich dort keinen ausländischen Touristen getroffen.
  • Überrascht war und bin ich von mir selber, dass mir in Indien viele – bei uns in Deutschland unvorstellbare – Dinge mit der Zeit gar nichts ausgemacht haben, nicht mehr auffielen oder mittlerweile selbstverständlich sind. So z.B.
    • der fast überall verstreute Müll,
    • der eklatante Unterschied von Arm und Reich,
    • dass in bestimmten Regionen Inder grundsätzlich keine Schuhe tragen,
    • der in öffentlichen Bereichen allgegenwärtige Geruch von Urin,
    • dass im Restaurant eine Ratte über die Nachbartische hüpft oder an den Wänden eine bestimmte Käferart hoch- und runterkrabbelt,
    • dass ich auf dem Markt beinahe auf eine (etwas zu langsame) Ratte drauf trete.

 

Zusammenleben mit Indern – oder: Wie indische und westliche Kultur aufeinanderprallen

Das, was meinen Eindruck von Indien trübt, betrifft das menschliche Miteinander, denn sich dem indischen Verhalten anzupassen oder es zumindest zu akzeptieren war deutlich herausfordernder als ich es mir vorgestellt hatte.
Sehr auffallend empfand ich die Ellenbogenmentalität der Inder (Anmerkung: Ich habe mir eigentlich verschrieben, nicht zu pauschalisieren, denn Ausnahmen gibt es sicher. Von daher ist die Formulierung „der Inder“ nicht korrekt. Ich habe dieses Verhalten jedoch so häufig beobachtet, dass ich hier doch ohne schlechtes Gewissen vereinfachen kann). Dieses Sich-Unbedingt-Durchsetzen-Müssen kam in vielen Situationen vor:

  • Beim Ein- und Aussteigen: Es wird gedrängelt und geschupst. Aussteigende Fahrgäste werden in der Regel von den einsteigenden in den Zug wieder reingedrückt. Da auch die Aussteiger drücken, geht für einige Sekunden gar nichts mehr. Wirklich: Nur mit physischer Gewalt lässt sich dieses Knäuel lösen. Übrigens: Alte Frauen sind die schlimmsten. Die knüppeln richtig rein.
  • Im Straßenverkehr (Situation auch häufig beobachtet): Auf einer schmalen Straße, auf der nicht überholt werden kann, begegnen sich zwei Autos. Beide Fahrer registrieren, dass sie nicht aneinander vorbeikommen. Dennoch fahren beide weiter – bis sie Stoßstange an Stoßstange stehen. Sie hupen sich an und wieder geht für eine Weile nichts mehr (andere Fahrzeuge fahren natürlich so weit an die Vordermänner ran, dass die keine Chance mehr haben, zurückzustoßen).
  • Beim Fragen nach dem Weg: Um 100 Prozent sicher zu sein, dass ich den richtigen Weg nehme, frage ich nochmal nach. Der Inder sagt, der Weg sei nicht richtig und zeigt in eine andere Richtung. Ich wiederum meine vorsichtig, dass die komplett andere Richtung nicht stimmen kann, doch der Inder erwidert fast aggressiv, dass sein Weg der richtige sei. Letztendlich lag er doch falsch. Diese Situation kam ebenfalls mehrfach vor.

Neben der Ellenbogenmentalität fielen mir weitere Verhaltensformen auf, die unseren westlichen Benimmregeln entgegen stehen, so z.B. das Ausspucken (von Frauen und Männern gleichermaßen), das lautstarke und ungeschützte Niesen, Rumrotzen und ungehemmte Husten.

Während sich die oben genannten Beobachtungen auf das Miteinander aller Inder beziehen, war auch die „Beziehung“ zwischen den Indern und mir anders als mit den Einheimischen in anderen Ländern. Insbesondere durch den Vergleich mit den vorher bereisten Ländern Pakistan und Iran stellte ich fest, dass die Kontakte mit den meisten Indern deutlich oberflächlicher waren. Gefühlt 95% der Gespräche liefen nach folgendem Muster ab:

  1. „Which country?“ Manchmal wurde auch nur nach „Country?“ oder nach „Countryname?“ gefragt
  2. Dann: „Name?“ oder „Godname?“
  3. „One?“, meint, ob ich alleine reisen würde
  4. „Married?“
  5. Wenns gut lief wurde ich auch nach „Age?“ oder „Work?“ gefragt

Und dann verschwand der Gesprächspartner.

Jetzt könnte man meinen, ich solle mich nicht so haben. Die Leute sind doch interessiert in mir! In Indien sah ich das etwas anders. Diese ohne Verben ablaufende Konversation war mit der Zeit sehr kräftezehrend, nicht nur, weil sie an manchen Tagen bis zu 25 Mal nach dem gleichen Muster ablief, sondern auch, weil sie keinen Platz für Gegenfragen ließ, ich also kaum was von meinen Gesprächspartnern erfahren habe. Trotz des relativ langen Aufenthalts von 7 Wochen hielt sich die Zahl der Kontakte zu Indern, die mir lange in Erinnerung bleiben werden (wie z.B. mein Freund Manish in Dehli), in Grenzen. Verwunderlich ist, dass das in Pakistan und Iran genau andersherum war und ist. D.h., trotz des kürzeren Aufenthalts kann ich auf mehr ernstgemeinte Bekanntschaften zurückblicken – obwohl die Englisch-Sprachkenntnisse in diesen Ländern weniger ausgeprägt sind.

Die Herausforderung auf meiner Seite war, die Fragen eines Inders, auch wenn ich sie an diesem Tag schon 15 Mal gestellt bekommen habe, freundlich zu beantworten. Zugegeben, nicht immer gelang mir das so, wie ich es mir gewünscht hätte. Insbesondere dann nicht, wenn Leute in unpassenden Situationen fragten, z.B. wenn ich irgendeinen Zug/sonstwas erreichen musste oder ich von hinten/von der Seite angesprochen wurde und dazu noch an mir gezerrt wurde.

Den Erzählungen anderer Indienbesucher zufolge, dachte ich mir vor meiner Reise: Entweder man liebt Indien oder man hasst es. Und wie ich jetzt feststelle ist da tatsächlich was dran. Es kommt immer drauf an… :

  • Es kommt drauf an, wie man sich auf die Kultur einlässt. An mir selber habe ich festgestellt, dass ich in Stunden mit der „Ich-habe-keine-Lust-auf-ein-und-dasselbe-Gespräch-Einstellung“ auch nur komische Leute getroffen habe. In den anderen Stunden, in denen ich offen auf Leute zugegangenen bin habe ich jedoch tolle Leute kennengelernt. Oft ist es einfach erforderlich, sich in die indische Realität „zurückzuholen“. So ist es mir z.B. in Kolkata gegangen als ich abends um 23 Uhr aus meinem Hotel ging, um einen Späti suchen und Kekse zu kaufen. Noch völlig versunken in den Gedanken, welche Eindrücke von diesem Tag ich in meinem Blog schreibe, sah ich in den Lastfahrrädern, neben des Lastkarren und in den Streetfoodzelten die Inhaber in Decken gerollt schlafen. Schon krass: Die haben tatsächlich nichts anderes als das, worin und worauf sie gerade schlafen. Die meisten Menschen scheinen trotzdem zufrieden zu sein und haben meist ein Lächeln auf den Lippen.
  • Und es kommt auch darauf an, wo man gerade ist: In den ländlichen Gebieten habe ich die meisten meisten lächelnden Menschen gesehen und die interessantesten Kontakte gehabt – und das trotz der Sprachbarriere.

Sieht man nur die eine Seite Indiens (z.B. nur die Touristenattraktionen), dann kann es vorkommen, dass man Indien hasst – oder es eben liebt. Von daher bin ganz glücklich über meine Routenwahl und darüber, viele Seiten erlebt zu haben.

 

So viele Sonnenuntergänge hintereinander wie in Indien habe ich noch nicht bestaunt. Jeder war toll, aber die Umgebung hat diesen hier auf Pamban Island besonders aufregend gemacht. Deswegen, weil ich nach dem Verschwinden der Sonne im Dunkeln gestanden hätte und es bis zur nächsten Zivilisation noch 25 Kilometer gewesen wären
So viele Sonnenuntergänge hintereinander wie in Indien habe ich noch nicht bestaunt. Jeder war toll, aber die Umgebung hat diesen hier auf Pamban Island besonders aufregend gemacht. Deswegen, weil ich nach dem Verschwinden der Sonne im Dunkeln gestanden hätte und es bis zur nächsten Zivilisation noch 25 Kilometer gewesen wären

1 thought on “Rückblick: mein Eindruck von Indien

  1. Jaja, “Pidgin”-Englisch als Erstsprache vieler Inder erschien den Briten vor 10 Jahren so attraktiv, dass man massenhaft Callcenter dorthin verlegte. Massive Kundenbeschwerden über unverständliche Gesprächspartner im Center haben inzwischen zu einem Umdenken und einer Rückverlagerung ins “Hochlohn”-Mutterland geführt.
    Viel Spaß und einen weiterhin starken Magen im nächsten Land.

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