Gegen 8.30 Uhr wache ich auf – nicht von meinem Wecker, sondern von zahlreichen Kinderstimmen. In der Etage unter mir ist eine Grundschule untergebracht – doch dazu später. Das Anwesen liegt auf einer leichten Anhöhe, so dass man von der Terrasse wunderbar auf den Ort und in das Tal schauen kann. Die Sonne scheint, es ist strahlend blauer Himmel.Jahandads Onkel Sala Huddin und seine beiden Cousins samt Personal leben hier und leiten von hier aus die Geschicke des Volkes. Das ursprüngliche Anwesen der Familie lag etwa 30 Kilometer westlich, doch mit dem Bau des Tarbelastaudamms und der Flutung durch den Indus verschwand der Grund und Boden in den Tiefen des Wassers. Die Familie siedelte nach Sher Garh um. Das jetzige Anwesen war bis dato nur ein Sommerhaus.
Wie ich in einem meiner vorherigen Blocks bereits erwähnte, ist Jahandads Familie Stammesführer eines Volkes, genannt „Tanoli“. Gleichzeitig ist die Familie Großgrundbesitzer. Die Tanoli kamen vor etwa 400 Jahren von Afghanistan in die Gebiete um Sher Garh und definierten sich fortan als eigenes Königreich. Neben diesem Königreich existierten beispielsweise auch die Königreiche um Gilgit, um Chitral und die zahlreichen Maharjas in Rajastan in Indien. Unter der Herrschaft der Engländer wurden diese Königreiche abgeschafft. Alle Könige wurden zu „Prinzen“ „herab gestuft“, mit der Begründung, dass es neben der englischen Queen keine weiteren Königinnen und Könige geben darf. Auch heute noch tragen die Nachfahren der Königsfamilien im heutigen Pakistan den Prinzen-Titel. Jahandad und Familie sind direkte Nachfahren und so tragen die Männer den Prinzen-Titel. Der offizielle Titel lautet in Hintku „nawabzada“ und steht für „Sohn des Königs“.
Die Tanoli umfassen heute etwa 800.000 Personen, die jedoch insb. infolge des Baus des Staudamms über ganz Pakistan, so z.B. Karachi, verstreut wurden. Auch wenn auf dem heutigen Stammesgebiet die Gesetze der Islamischen Republik Pakistan gelten und damit die Gesetze des Stammes außer Kraft gesetzt wurden, kommt Jahandads Familie als Stammesführerin eine bedeutende Rolle zu: Sie ist grundsätzlich bei allen Fragen Ansprechpartnerin: sei es, dass der Nachbar die Ziege geklaut hat und sie nun rausrücken soll, irgendwo aufgeforstet werden soll und dazu lokale Expertise erforderlich ist, Familienzwiste gelöst werden müssen (und pakistanische Familien sind groß und komplex) oder nach Terroristen gesucht wird. Das Tor des Anwesens steht stets offen, jeder kann kommen und mit Jahandads Vater oder Onkel ins Gespräch kommen. Und bei Bedarf unbegrenzt auf dem Anwesen wohnen. Während meiner Anwesenheit geben sich zahlreiche Menschen die Klinke in die Hand: vom „simplen“ Dorfbewohner bis zu den Terroristenjägern.
Der Begriff „Stamm“ und „Stammesgebiet“ bekommt für mich in der Zeit in Sher Garh eine neue Bedeutung: Oft werden diese Begriffe mit Ugauga und wer-die-bessere-Waffe-hat, hat-die-Macht in Verbindung gebracht. Wenngleich diese Bedeutung für manche vom Terrorismus durchsetzen Gebiete an der afghanischen Grenze gelten mag, zeigt sich mir deutlich, dass die Regeln des Stammes weitaus effektiver und effizienter sind als die der Republik. Ein wichtiger Grund: Miteinander werden Lösungen ausgehandelt. Jahandads Vater und dessen Bruder sind quasi Schiedsrichter. Bei sehr komplexen Fällen wird ein Ältestenrat hinzugezogen. Werden sich zwei Streithähne nicht einig, quartiert sich dieser Ältestenrat bei den Streithähnen ein und bekommt Kost und Logie. Da es ganz schön teuer für die Streithähne werden kann, wenn eine Armada mitisst (es kann ja nur das gegessen werden, was auf dem Hof lebt und wenn keine Ziege mehr da ist, dann ist die Familie pleite), werden sich beide Parteien relativ schnell einig. Bei Anwendung des Staatsrechts dagegen dauern die Verhandlungen oft Monate, Kosten viel (reales) Geld und werden meist durch Schmiergelder beeinflusst.
Gleichzeitig ist die Familie Großgrundbesitzer: Felder werden verpachtet und im Gegenzug erhalten sie die Hälfte des Getreides bzw. des Mais. Da die Grundstücke nicht klein sind, wird Personal eingesetzt, um die ordentliche Aufteilung der Ernte zu überwachen bzw. den Verkauf der Ernte (nach Abzug des Eigenbedarfs) zu regeln.
Mit Jahandads Onkel und seinem Vater verstehe ich mich blendend. Oft sitzen wir abends lange am Kamin zusammen. Ich erfahre viel über über das Leben eines Parlamentariers, denn der Onkel war lange Zeit im pakistanischen Parlament und über das Leben und die Zusammenhänge im Dorf.
Eine besondere Herausforderung in der Region ist die wachsende Bevölkerung und die zahlreichen Kinder. Die Gebäude im Dorf reichen seit einiger Zeit nicht mehr aus, um alle Schulkinder geeignet unterrichten zu können. Jahandads Familie hat pragmatisch reagiert: Sie hat kurzerhand die unterste Etage ihres Anwesens den Grundschülern zur Verfügung gestellt. Von Montag bis Freitag, 8.30 Uhr bis 13 Uhr, wird unterrichtet, meist im Freien. Da es im Winter dann auch dort zu kalt wird, schließt die Schule. Es gibt Winterferien bis März. An meinem ersten Tag auf dem Anwesen statte ich der Schule einen Besuch ab. Die Kinder freuen sich riesig, mich zu sehen. Von den Lehrern, etwa 5 bestreiten den Unterricht, werde ich gleich zum Tee eingeladen. Solange ich da bin, ruht der Unterricht. Teilweise bringen sich die Kinder selbst Dinge bei, so z.B. Englisch. Mit einfachen Mitteln wird Unterricht gemacht – und es funktioniert scheinbar.
Nach meinen Spaziergängen durch das Dorf bin ich bekannt wie ein bunter Hund. Ich werde hier und dort eingeladen – und auch in die anderen Schulen. Durch mehrere Klassen werde ich geführt. Jede Klasse ist logischerweise verschieden, doch eins begegne ich in allen Klassen: strahlenden Kinderaugen. Ich mache in jeder Klasse ein Foto und zeige den Kindern anschließend das Bild auf der Kamera. Unvorstellbar, wie sich ALLE Kinder freuen, sich auf den Fotos zu sehen. Ein einfaches Foto auf einer einfachen Digitalkamera reicht aus, um die Kinder glücklich zu machen. Faszinierend.